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Iraqi Odyssey: Interview mit dem Regisseur Samir

Samirs Iraqi Odyssey hatte Premiere bei der 65. Berlinale wo die 162-minütige Produktion in 3D für starke Aufmerksamkeit sorgte, gefolt von einem erfolgreichen Empfgang in der Schweiz. Der Film wird sogar die Schweiz an den Oscars 2016 in der Kategorie «Bester fremdsprachiger Kinofilm» vertreten.
Zudem führt der irakisch-schweizerische Filmemacher Samir mit dem interaktiven Webprojekt Iraqi Odyssey fort, was er mit dem Film begonnen hat – “die Geschichte seiner über die Welt verstreuten Familie zu erzählen und dadurch auch ein Stück der Geschichte des Iraks zu rekonstruieren”. Die Plattform bietet die Möglichkeit die Geschischten von Privatpersonnen zu sammeln: Texten, Fotos, Filmausschnitten, Musik-Stücken, privater Film- und Tonaufnahmen.
http://www.iraqiodyssey.ch

Wir haben hier (auf Französisch) schon über den Film berichtet. Für den Kinostart in Deutschland am 24.09.2015 veröffentlichen wir unser ganzes Interview mit dem Regisseur.

Samir © Dschoint Ventschr
Samir
© Dschoint Ventschr

Bomben, Krieg, wütende bärtige Männer, verschleierte schluchzende Frauen, kaputte Städte: der Irak von heute in den westlichen Medien. In Kontrast dazu stehen Bilder aus den 50er- und 70er-Jahren: Filme mit frivoler Musik, unverhüllte Frauen, die studieren; elegant gekleidete Männer in Bagdad, einer modernen Stadt. Wie konnte es soweit kommen? Regisseur Samir erzählt die Geschichte seiner globalisierten irakischen Mittelstandsfamilie, verstreut zwischen Auckland, Moskau, Paris, London und Buffalo NY.

Die Vorbereitung des Filmes muss allein eine unglaubliche Odyssee gewesen sein. Können Sie ein bisschen davon erzählen: wann ist die Idee gekommen, die Geschichte von Irak und Ihre Familie zu verknüpfen? Wie lange hat  den ganzen Vorgang gedauert, war es von Anfang an in dieser Form gedacht? Und die Finanzierung?

Von 1999 bis 2002, während der Entstehung meines letzten Filmes Forget Baghdad, in welchem es um die Geschichte der irakisch-jüdischen Kommunisten ging, die gegen ihren politischen Willen in Israel landeten, wurde mir klar, dass das Thema dasselbe war, welches auch die Generation meiner Onkel und Tanten umtrieb. Doch 2003 fand ich mich nach Abschluss dieses Filmes mittendrin in der privaten Bewältigung des Krieges und seiner Auswirkungen auf meine Familie.

Die Betreuung und die Neugestaltung meiner Beziehung zu meiner irakischen Familie, welche es nach all den Kriegen in alle Welt verstreute, wurde ein Teil der Recherchen meines Filmes. Es brauchte sehr viel Zeit -Jahre! – um alle Geschichten und Biografien zusammen zu stellen und auch die Zustimmung von allen zu erhalten. Auch die Finanzierung dieser umfangreichen Arbeiten war sehr schwierig. Es brauchte zuerst sehr viel Eigen-Investitionen, bevor überhaupt mit dem Fundraising begonnen werden konnte. Erst vier Jahre später – ab 2007 – konnten wir die Projektentwicklung starten. In dieser Zeit bekamen etliche meiner Familienmitglieder Angst, ihre Geschichte der Öffentlichkeit in einem Film vorzustellen. So veränderte sich die Projektentwicklung immer wieder sprunghaft und die geplante Struktur musste konstant überarbeitet werden, insbesondere nachdem einer meiner Onkel – als Protagonist – verstorben war. Bald war klar, dass alleine durch die geografischen Entfernungen, politischen Entwicklungen im Irak und die komplizierten Recherchen in den Archiven, Film- und Fotomaterial aus über 100 Jahren aus dem Iraq, aus Russland, England, Frankreich und den USA, das übliche Dokumentarfilm-Budget sprengen würde.

1959: Ein Jahr nach der Revolution - Familien Picknick in der N‚he von Baghdad. Von links nach rechts: Samirs Tante Selma (Madam ‘Ohlala’ - die bis heute in Baghdad lebt), Samirs Schwester Hayat auf dem Scho… der Mutter, Samirs Vater Riadh mit zwei Freunden, Samir selbst als kleiner Junge mit einem Freund seines Vaters. © Samir / Dschoint Ventschr Filmproduktion 2014
1959: Ein Jahr nach der Revolution – Familien Picknick in der N‚he von Baghdad.
Von links nach rechts: Samirs Tante Selma (Madam ‘Ohlala’ – die bis heute inBaghdad lebt), Samirs Schwester Hayat auf dem Scho… der Mutter, Samirs Vater Riadh mit zwei Freunden, Samir selbst als kleiner Junge mit einem Freund seines Vaters.
© Samir / Dschoint Ventschr Filmproduktion 2014

Nach Abschluss der Projektentwicklung startete die Finanzierung Anfang 2010 und dauerte mehr als 2 Jahre. Die Finanzarchitektur war sehr kompliziert: Neben einem hohen Anteil von Eigeninvestition unserer Produktionsfirma erhielten wir aus der Schweiz eine essentielle Unterstützung durch die kulturellen Förderungen, später auch aus unserem Koproduktionsland Deutschland. Hinzu kamen noch essentielle Beteiligungen durch das Schweizer Fernsehen und dem Westdeutschen Rundfunk WDR. Des weiteren wurden wir schon in einem frühen Stadium durch die kulturelle Förderung des Filmfestivals von Abu Dhabi unterstützt. Viel Zeit verloren wir durch die Geldsuche in Frankreich, welche nicht Recht vom Fleck kam. So beschlossen wir die Produktion zu starten, obgleich die Finanzierung noch nicht vollständig abgeschlossen war, unter anderem auch, weil wir durch das hohe Alter der Protagonisten bedingt, mit der Start der Produktion nicht noch länger warten wollten.

So begannen die ersten Dreharbeiten Ende 2012 und zogen sich bis Anfang 2014 hin. Gleichzeitig mussten wir mit dem Schnitt beginnen, weil wir nur durch die Verifizierung der komprimierten Lebensgeschichten sicher sein konnten, welches Archivmaterial wir tatsächlich im Film benutzen würden. Aus all diesen Gründen – und durch die Komplikationen in der dreidimensionalen Gestaltung – dauerte die Postproduktion über anderthalb Jahren.

Ihr Onkel im Paris wollte nicht an dem Film teilnehmen. Sie erwähnen das mehrmals, aber nie warum.

Da ich vom Spielfilm herkomme, bin ich es mir gewohnt, die Widerstände der Schauspieler gegenüber einer Figur mit ihnen zu diskutieren und zu überwinden. Auch in meinen bisherigen Dokumentarfilmen fiel mir der Umgang mit den Figuren nicht schwer. Im Falle von Familienmitgliedern als Protagonisten war das nicht möglich. Das führte oft zu schwierigen und delikaten Situationen, weil die Beziehungen schon über lange Zeiten existierten und manchmal die Vorbehalte es fast verunmöglichten, einen rationalen Zugang zur filmischen Darstellung herzustellen.

Durch meine fortwährenden Besuche bei meinem Onkel in Paris, der einer meiner wichtigsten Darsteller werden sollte, wusste ich, dass er sich mit dem Auftritt vor der Kamera schwer tat. Er war tatsächlich erst nach einiger Zeit einverstanden, vor der Kamera seine Lebensgeschichte zu erzählen. Die Dreharbeiten in einem Vorwort von Paris gestalteten sich sehr emotional und waren geprägt von Zuneigung. Doch als wir am letzten Tag in die Innenstadt fuhren, wo er mir an der Sorbonne seinen Studienplatz zeigen wollte, wurde ihm alles zuviel und er sagte mir im letzten Moment ab. Es ist immer noch sein Geheimnis, weshalb er nicht im Film erscheinen wollte. So lagern die 16 Stunden an Aufzeichnungen mit ihm immer noch ungenutzt bei mir im Schnittraum…

Sie erzählen – durch die Ereignisse im Zusammenhang mit Ihrer Familie – die Geschichte von Irak auf pädagogische Weise: denken Sie dass es die westliche Welt – und vielleicht auch die arabische Länder – an historisches Wissen fehlt?

Es gibt sicher einige Historiker, denen meine Erzählung zu didaktisch erscheinen mag. Doch ich erzähle ja die politischen Verhältnisse über die private Geschichte meiner Verwandten. Das ist sicher etwas ungewöhnliches, weil damit der Einfluss der politischen Ereignisse auf das Private sich dem Zuschauer direkt erschliesst. Mir war aber auch wichtig zu zeigen, dass meine Familie diese Verhältnisse nicht einfach hinnahm, sondern versuchte aktiv darauf einzuwirken.

Was die Rezeption im Westen angeht, wusste ich ja Bescheid: jeden Tag zeigen uns in den Medien sogenannte Spezialisten, wie wenig sie über den Nahen Osten wissen und mit wie vielen Vorurteilen sie darüber erzählen. Diesem euro-zentristischen Blick etwas entgegenzusetzen war eine Notwendigkeit!

Wir folgen Ihre Familie als eine Art Doppelgänger der reichen Geschichte Iraks. Am Ende dennoch, als ihr alle zusammen seid, scheint die Familie eine kleine Schweiz (mit English Sprache als lingua franca… wie leider mehr und mehr bei uns [Schweizer] auch den Fall im alltäglichen Leben ist) zu bilden…

Bei unseren Familien-Treffen sprachlich meistens ein Riesendurcheinander. Denn die Mehrheit meiner Familie spricht immer noch Arabisch, nimmt aber Rücksicht auf die Kinder – welche nur noch schlecht arabisch sprechen – und um sicher zu sein, dass sich alle verstehen.

Samirs Onkel Yahya, kurz vor seinem Tod. Er lebte als Arzt in Deutschland. © Samir / Dschoint Ventschr Filmproduktion 2014
Samirs Onkel Yahya, kurz vor seinem Tod. Er lebte als Arzt in Deutschland.
© Samir / Dschoint Ventschr Filmproduktion 2014

Sie sagen es gibt keine Endung dieser Odyssee – obwohl Sie Ihre Penelope gefunden haben. Mabrouk! [Samir: Shoukran!] – Mesopotamien wird allgemein als Wiege der Zivilisation betrachtet und die Schweizer Eidgenossenschaft als Idealtype der Demokratie: wäre es nicht eine mögliche Ende ihren persönlichen Odyssee?

Das ist eine schöne Beschreibung meiner Intentionen. Aber ich überlasse es den Zuschauern auf diese Gedanken zu kommen. Es ist ja in der Anlage des Filmes und ich lobe am Schluss des Filmes auch die politischen Grundlagen der noch unvollständigen Schweizer Demokratie.

Warum haben Sie die 3D benutzt?

Ich lernte in den 70er Jahren meinen Beruf in der klassischen Filmproduktion mit 35mm Zelluloid. So war für mich das Aufkommen des elektronischen Bildes durch die Videoproduktion in den 80ern eine gestalterische Herausforderung.
Das Mischen von Bildfragmenten und die Möglichkeit auf einfache Art mit Schriften im Bild zu arbeiten – wie auch die aufkommende Digitalisierung im Ton – brachte mich auf die Idee, neue Wege in den filmischen Erzählformen zu suchen. Das führte zu verschiedenen Experimentalfilmen im Video-Kunst-Bereich.

Mit der aufkommenden Digitalisierung Anfang der neunziger verstand ich, dass Film- und Video-Bearbeitung nun formal in hoher Auflösung möglich wurde. Mit BABYLON 2, eine Reflexion über die zweite Migrantengeneration in der Schweiz, realisierte ich 1993 den ersten abendfüllenden digitalen Dokumentarfilm überhaupt. Darin brachte ich auch meine Erfahrungen im Bereich der bildenden Kunst und der Video-Installationen mit ein. So entwickelte ich die formale Umsetzung und Rhythmisierung des Filmes auf mehreren Bildebenen.
Schon damals gab mir nur die Video-Aufzeichnung die Möglichkeit stundenlang mit den Protagonisten zu sprechen und ihre Geschichten in einem natürlichen Duktus zu erzählen.

Als vor einigen Jahren die Möglichkeit entstand mit einer vergleichsweise kleinen Ausrüstung in 3D zu filmen, wagte ich es, einen Test zu machen um herauszufinden, ob es Sinn macht, die Protagonisten im Vordergrund als „Körper“ erscheinen zu lassen und hinter ihnen die Archiv-Filme, Fotos und Schriften zu gestalten. Der Effekt war überwältigend und wir entschlossen uns den Film so zu produzieren. In diesem Sinn entspricht der Film weniger der 3D-Gestaltung von Action-Filmen, als der alten Methode der stereoskopischen Bilder des 19. Jahrhunderts.

Im Hintergrund: 2007: Treffen der Muqtada-Militia in Baghdad. Im Vordergrund: Souhir (Halbschwester von Samir). © Samir / Dschoint Ventschr Filmproduktion 2014
Im Hintergrund: 2007: Treffen der Muqtada-Militia in Baghdad. Im Vordergrund: Souhir (Halbschwester von Samir).
© Samir / Dschoint Ventschr Filmproduktion 2014

Sie haben sich für “eine Narration” auf Englisch entschieden: wird es für alle Länder so? Wenn ja, warum haben Sie sich für Voiceover entschieden und nicht original Sprache und Stimme mit einfach Untertiteln?

Wir haben viele Tests gemacht und herausgefunden, dass Untertitel in einer 3D Fassung die Zuschauer zu fest ermüden. Die englische Voiceover wurde nur für die 3D-Fassung in den Festivals gemacht und für den Verkauf in den englischsprachigen Ländern. In der Schweiz wird der Film in den jeweiligen Landespache gezeigt werden.
Und auch für die zukünftigen normalen Projektionen (2D) wird es eine Fassung geben mit Untertiteln über der Originalsprache der Protagonisten. Dazu ein Regiekommentar in der jeweiligen Sprachfassung.

Iraqi Odyssey; von Samir; Cinematography: Lukas Strebel, Pierre Mennel, Yuri Burak, John Kelleran, Kirill Gerra, Samir; Animation und 3D Animation: Wamidh Al-Ameri; Schweiz, Deutschland, Vereinigte Arabische Emirate, Irak; 2014; 162 Min.

Malik Berkati, Berlin

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Malik Berkati

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